Pferdehaltung ohne Weide? – Das Paddock Paradise | 4my.horse

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Pferdehaltung ohne Weide? – Das Paddock Paradise

Pferdehaltung ohne Weide?

Das Paddock Paradise

Autorin: Karin Hufschmid

Warum wollen wir alle ganzjährige Weiden, grosse Wiesen, gute Böden, wenn es offensichtlich nicht mal für die Pferde nur Vorteile hat? – Weil das Pferd ein Bewegungstier ist, Luft und Platz braucht. Und weil sie das liebe Gras nun mal so gerne fressen. Aber es gibt Alternativen! Die Lösung ist so naheliegend, logisch und simpel, wie auch ungewohnt und neu – eigentlich erstaunlich. Und die Lösung erfordert vom Menschen sehr viel mehr Umgewöhnung, als vom Pferd.

Es ist Anfang Juni, und in den Stallgängen und Sattelkammern wird aufgeatmet. Nach Wochen des pedantischen Einhaltens eines Zeitplanes und Frust auf Seite der Pferde wie auch der Menschen hat die Weidesaison endlich so richtig gestartet. Die Ponys und Pferde sind endlich angeweidet! Und mit etwas Glück ohne die in dieser Zeit so verhassten "Nebenwirkungen" von Kotwasser und Durchfall bis zur Kolik und Hufrehe. Denn diese sind die Hauptgründe für striktes Anweiden nach Stoppuhr und Wetterbericht, optional auch Mondpahse. Ausserdem sind die Wiesen endlich alle auf die unvermeidbaren Giftpflanzen untersucht und denselben mit Ausstechen, Spritzmittel oder Mähen auf den Leib gerückt. Die letztjährige Matschkoppel ist frisch angesät in der Hoffnung, dass diesmal die Saatmischung auch wirklich zum Boden passt, gegen die Unkräuter ankommt und sich nicht als Eiweiss- und Zuckerbombe entpuppt.

Das Paddock Paradise

 

Differenzen aus Sorge ums Pferd

Eine weitere alljährliche Nebenerscheinung all dieser Aktivitäten sind die Diskussionen und Streitereien zwischen Stallbesitzern und Einstellern. In der Regel weil der Stallbesitzer nicht genau genug anweidet (oder diesen Service nicht oder nicht kostenlos bietet), nicht jede Giftpflanze ernst genug nimmt und die neue Gras-Saat für diesen Sommer das beste Weidestück unnütz macht, da es sich vom Winter erholen soll. Der Einsteller wiederum verlangt Leistungen, die kein Stallbetreiber ökonomisch sinnvoll anbieten kann, ist pedantischer als bei der Hygiene im Kochgeschirr und ausserdem permanent genervt durch das Auswaschen des Kotwasser-verschmierten Schweifes (bevorzugt bei Schimmel, Palomino, Cremello und Co – klar). Oder aber der Stallbesitzer ist der Pingelige, weil er die Weiden viel zu lange schont, wegen ein paar Maiglöckchen nicht freigibt und den Pferden keine paar Minuten längere Weidefreuden bieten will – vermutlich ist er knausrig.

Ist Weide nötig?

Je mehr ich mir die (meist beidseitig gerechtfertigten!) Diskussionen und Aufwände der Pferdefreunde so anhöre, desto mehr frag ich mich, warum wir uns das alles eigentlich antun. Für die geliebten Pferde natürlich! Ist ja klar. Doch wie sieht es aus deren Perspektive eigentlich aus? Über den Winter waren sie mit Heu versorgt, hatten kaum Verdauungsprobleme, gute Hufe und auch wieder eine etwas agilere Figur. Einige haben dafür etwas mehr Hustenprobleme, denn Heu bringt immer auch Staub, und dies notgedrungen direkt vor die Atemwege. Dann kam der Frühlingsanfang, die Gefühle schäumen hormongetrieben sogar beim 26jährigen Wallach über, doch die Weiden sind noch zu, rennen ist nicht. Mit etwas Glück dürfen Mutter und neugeborenes Fohlen schonmal auf die robusteste Wiese. Mit etwas Pech hingegen (ausser für Stute und Nachwuchs) muss vom Paddock für die lauffreudige Nachzucht mehr Platz abgetrennt werden, der Rest der Gruppe muss auf noch weniger Quadratmetern auskommen. Denn ohne die Wiesen ist in unseren Breitengraden der verfügbare Platz fast überall rar.

Was die Pferde meinen 

Doch dann, endlich, kommt das Anweiden. Wie sich die Pferde doch freuen! Doch ist es wirklich so? Da ist der gestresste Einsteller am Strassenrand, seine drei Pferde und Ponys an den Stricken (alle den besten Grasbüschel in anderer Richtung vermutend – what else?...) und etwas enttäuscht, dass es schon wieder so spät ist und es heute zu viel mehr als einem kurzen Ausritt wegen des Angrasens nicht mehr reichten wird. Währendem versuchen die Equiden in atemberaubendem Tempo so viel Gras wie möglich hektisch schnaubend in sich reinzustopfen – man kenn die Problematik der abgezählten Minuten von den Vortagen. Oder aber der Stallbesitzer übernimmt das Angrasen, lässt die sehr muntere Gruppe auf die Wiese. Nach kurzem, heftigem Toben verschwinden die Mäuler im Gras, doch schon sind die Minuten um und die Fresszeit vorüber. Der verzweifelte Stallbesitzer und hoffentlich 3 oder mehr Helfer versuchen dann mit kreativen Mitteln die urplötzlich wild rennenden Tiere zum Ausgang zu bewegen (von mit-verstecktem-Halfter-hinterher-Rennen über mit-Futter-lockend-schleichend-Annähern bis zu mit-Longen-Absperrung-und-Cross-Motorrad-Reintreiben).

Nach dem Futtern ist die Anspannung hoch

Wieder im Offenstall oder auf dem Paddock angekommen versuchen die Pferde dann das Adrenalin der Rennerei vollständig abzubauen, zusammen mit dem Frust über die schon wieder verstrichene Fresszeit. Wenn das Pech dann lange Regenzeit, eine Lahmheit oder nochmals Frost beschert, dann muss das Anweiden unterbrochen und dümmstenfalls von vorn begonnen werden. Dass Kotwasser und Durchfall trotz aller Massnahmenvorkommen und sicher auch fürs Pferd unangenehm sind, ist unbestritten. Ist der Sommer mal da, ist nicht selten Wasser und Schatten oder Insektenschutz auf der Wiese Mangelware (oder bedeutet wieder mehr Aufwand für den Stallbesitzer, der aber gerade auch noch Heu ernten sollte) und das ewige Umdecken der Ekzemer und Insektengeplagten sowie das Suchen der Pferdeäpfel auf der riesigen Fläche nervt den Verantwortlichen. Erst im Herbst, wenn die Wiesen wieder schliessen, die Pferde auf Heu umgestellt werden (was interessanterweise kaum je Probleme verursacht), kehrt wieder Ruhe ein – und die meist kugelrunden Pferde wieder in den Stall.

Somit zurück zur Frage: Warum das alles?

Wenn es noch nicht mal für die Pferde nur Vorteile hat, sondern auch diverse Probleme mitbringt, warum wollen wir alle ganzjährige Weiden, grosse Wiesen, gute Böden? – Weil das Pferd ein Bewegungstier ist, Luft und Platz braucht. Und weil sie das liebe Gras nun mal so gerne fressen. Aber es gibt Alternativen! Die Lösung ist so naheliegend, logisch und simpel, wie auch ungewohnt und neu – eigentlich erstaunlich. Und die Lösung erfordert vom Menschen sehr viel mehr Umgewöhnung, als vom Pferd.

Das Paddock Paradise

Die Idee von Jaime Jackson

Jaime Jackson hat mit seinem Konzept "Paddock Paradise" den Lauf- oder Aktivstall noch kompromissloser gemacht – und dadurch auch in vielen Bereichen pferdegerechter. Eigentlich wollte er herausfinden, warum Wildpferde oft sehr gute Hufe haben, und was deren Alltag denn im Wesentlichen von dem der domestizierten Pferde unterscheidet. Was er durch seine jahrelangen Beobachtungen erkannte und schuf, war eine ganz neue Haltungsart, die vielen Pferden nicht nur zu gefallen, sondern auch sehr gut zu bekommen scheint, körperlich wie auch geistig. Er erkannte, dass Pferde eigentlich vor allem den ganzen Tag langsam spazierend von karger Futterquelle zur nächsten gehen. Dabei nutzen sie oft die immer gleichen Pfade, kommen dabei an Wasserstellen, Schattenplätzen, bevorzugten Wälz- und Spielplätzen vorbei, und folgen so ihrem ganz eigenen Rhythmus. Aktivitäten wie Rennen, Spielen, Saufen, Paarung, Streiten, Kämpfen und Tiefschlaf machen selbst zusammengezählt nur einige wenige Prozente des Tages aus.

Wandern fressen und dösen

Viel öfter wird gewandert, gefressen und auch gedöst. Um ein ähnliches Leben auch den domestizierten Pferden (selbst auf wenig Platz) zu ermöglichen, eignet sich Jacksons Paddock Paradise (auch Paddock Trail oder Track genannt) hervorragend. Das Grundkonzept sieht einen Pfad von drei bis fünf Metern Breite vor, auf welchem die Pferde ganzjährig ganztägig leben. Entlang diesem den natürlichen Laufpfaden nachempfundenen Track (ideal mit verschiedenen Untergründen) finden die Pferde eine Wasserquelle, mehrere kleine Raufutterstellen, Schutz vor Witterung und Insekten (Stall, Unterstand, Wald) und Unterhaltung je nach Kreativität des Betreibers (Kräuter, Totholzhecken, Mineralien, Wasserfurten, Gailstellen, Scheuerstellen, Kletterhügel, etc.). Kern der Idee ist es, dass das Raufutter auf mehrere Stellen entlang des Tracks angeboten wird und permanent zugänglich ist, zum Beispiel aus Netzen oder Raufen. In jener Menge und Qualität, in der die Pferde zwar permanent fressen können, aber ohne zu dick oder krank zu werden.

Laufanreize sorgen für Bewegung

Die dominanteren Pferde werden automatisch von Futterstelle zu Futterstelle ziehen, immer nach dem besten Futter Ausschau haltend. Die weniger dominanten Pferde weichen auf dem Trail nach vorne aus, so dass bald ein unermüdliches Bewegen aller Tiere resultiert. Pferde in Offenställen mit solchen und ähnlichen Lauf-Anreizen legen bis zu einem Zehnfachen der täglichen Strecke zurück, verglichen mit einem Offenstall ohne Laufanreiz. Stress oder Aggressionen wegen Wartezeiten bis zur nächsten Fütterung entfallen, die Pferde stauen durch die viele Bewegung keine ungenützte Energie an und legen keine Fettpolster zu. Kreislauf und Stoffwechsel werden positiv angeregt. Was übrig bleibt, ist lediglich das Beschaffen von wirklich gutem Pferdeheu. Der Kampf gegen Unkräuter und Giftpflanzen und das Prüfen des Nährwertes bleibt bestehen – da kommen wir leider nicht dran vorbei.

Und was ist jetzt mit der Weide??

Das Paddock Paradise

Genau – die braucht es nicht. Jaime Jackson geht sogar so weit, dass er empfiehlt die allfällig innerhalb des Trails bestehenden Grünflächen abzubrennen oder zu befestigen, sie also vom Gras zu befreien. So können sie je nach Witterung täglich für kurzes Toben geöffnet oder als Trainingsplatz genutzt werden. Oder natürlich ganz normal als Wiese für die Heubeschaffung. Den Pferden macht es nichts aus. Sie gewöhnen sich (ohne Nebenwirkungen wie Kotwasser und Co) schnell ans Heu und die Bewegung im Alltag. Jackson beobachtete sogar, dass sie die "Spielzeit" auf einer grossen befestigten Fläche oft bald nicht mehr nutzen; weil sie es einfach nicht brauchen. Die Pferde haben somit alles, was sie brauchen: pferdetypische Bewegung, soziale Interaktion, permanent Futter, Luft und Licht. Und selbst der Heustab macht in solch einer Umgebung vielen Allergikern massiv weniger Probleme, da er sich nicht in einem Stall ansammelt, sondern auch das Fressen draussen geschieht.

Den Menschen vom Gras entwöhnen

Was bleibt, ist die Umstellung von uns Menschen. Das Lösen vom Gedanken, dass das Pferd unbedingt saftiges Gras braucht oder wildes Herumrennen auf weitem Feld. Und das Annehmen der Idee, dass Heu einem kargen, stengeligen Steppengras sehr viel näher kommt und das Pferd viel mehr ständige Bewegung im Schritt braucht, als ein grasgrünes Feld. Und dass das Pferd vermutlich besser dran ist ohne Kotwasser und andere Gefahren, und ohne jährliche wiederkehrende Umgewöhnung. Und natürlich auch die Umstellung der Stallbetreiber auf ein System, dessen Aufwände sich vom Weidegang auf die Fütterung auf dem Trail verlagern und evtl. auf die Heugewinnung auch für im Sommer. In vielerlei Hinsicht jedoch eine Rechnung, die es sich aufzustellen lohnt, wenn das Anweiden und Diskussionen über Weidezeit, Maulkörbe, Grasqualität etc., entfallen und dafür ausgeglichene, gesunde Pferde und deren zufriedene Besitzer das Resultat sind.

Ausgeglichene, gesunde Pferde = zufriedene Besitzer

Quellenverweis: "Paddock Paradise – A Guide to Natural Horse Boarding" von Jaime Jackson, Edition 2013

Fotos: Mary-Theres Haller

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