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Natural Horsemanship und Pat Parelli

Natural Horsemanship (NHS) – was ist das eigentlich?

Autorin: © Nicola Steiner

Es ist in aller Munde: Das Natural Horsemanship (NHS). Es ist so sehr in aller Munde, dass man manchmal den Eindruck gewinnt, dass es alles und nichts ist. Manche Befürworter sehen darin schlicht eine positive Einstellung zum Pferd, die vom ruhigen und gewaltfreien Umgang geprägt ist. Böse Zungen nennen es ein sinnloses Wedeln mit einem orangefarbenen Stöckchen. Obwohl es für die einen ein Weg zu sein scheint, eine innigere Beziehung zum eigenen Pferd aufzubauen, gibt es andere, die sagen, dass die Pferde hier mechanisch und lustlos Übungen absolvieren und froh sind, wenn sie es endlich hinter sich haben. Da (abgesehen von Tierkommunikatoren) noch niemand ein Pferd dazu befragen konnte, bewegen wir uns im Bereich der Spekulationen.

Bestandteile des grossen Ganzen

Weniger umstritten ist die Tatsache, dass der Begriff Natural Horsemanship vom US-Amerikaner Pat Parelli geprägt wurde, der ein gleichnamiges Buch geschrieben hat, was vor 20 Jahren auch in deutscher Sprache erschienen ist. In diesem Buch spricht Parelli noch vom lateralen Longieren, stellt bestimmte Techniken vor, macht aber hier schon deutlich, dass Einstellung und Techniken nur ein paar Bestandteile des großen Ganzen sind. Parelli hat das Rad nicht neu erfunden, aber er hat sich die Mühe gemacht, bei den großen Horsemen seiner Zeit zu lernen und er versäumt auf keiner Veranstaltung, den Namen dieser Horsemanship-Legenden zu nennen: Troy Henry, Ray Hunt, die Dorrance-Brüder und Freddy Knie senior – um nur einige wenige zu nennen. Parellis einzigartiger Verdienst ist es, dass er Pferdewissen, dass so alt ist, dass es schon wieder neu ist zu einem bisher einzigartigem erlernbarem System zusammen gefasst hat, das heute unter dem Begriff der sieben Spiele bekannt ist. Es ist aber nicht so sehr ein Programm, wo Pferde etwas lernen sollen, sondern besonders in den ersten Levels eine (Pferde) Menschenschule.

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Mehr Menschenschule als Pferdeausbildung

Im ersten Level lernt der Mensch nur Bodenarbeit, als Fortgeschrittener das Reiten auf allerhöchsten Niveau über Travers und Schulterherein zum fliegenden Galoppwechsel. Da vor dem Respekt immer das Vertrauen steht, beginnt der Neuling im Natural Horsemanship mit dem Friendly Game, wo es vereinfacht gesagt um rhythmische Bewegungen geht – manche würden dies desensibilisieren nennen, aber Parelli bevorzugt den Begriff des Vertrauens. Das zweite Spiel heißt Porcupine Game (Stachelschwein-Spiel), wo der Mensch lernt, stetigen Druck auszuüben. Die andere Möglichkeit aufs Pferd in irgendeiner Form einzuwirken, ist der rhythmische Druck – bei Parelli Driving Game genannt. Bis hierhin sind dies die Basisspiele, auch das ABC des Horseman.

Wir kennen nun die Buchstaben der Pferdesprache, die wir später zu Wörtern und einfachen Sätzen kombinieren, wenn wir die Zweckspiele erlernen. Beim Yoyo-Game geht es um Übergänge auf geraden Linien, also vorwärts und rückwärts. Das Circling Game unterscheidet sich vom Longieren vor allem dadurch, dass der Mensch nicht auf das Pferd einwirkt und dem Pferd damit den Komfort gibt, den Pferde wirklich lieben: Das Neutral, was im Westernreiten auch Null-Wirkung genannt wird. Das Seitwärtsspiel beschäftigt sich mit den unzähligen Möglichkeiten ein Pferd seitwärts zu bewegen und beim Squeeze-Game, dem Durchquetsch-Spiel geht es um Engpässe. Das können Lücken sein, um das Pferd auf die Enge im Pferdeanhänger vorzubereiten oder auch Sprünge oder Planen.

Sicherheit erlangen

Beim Stichwort Hindernis sind wir übrigens mitten im Level 2 gelandet, wo all diese Spiele mit Hindernissen aller Art gespielt werden, z.B. auch mit einem Ball oder Podesten. Ab hier spielt der NHS-Schüler mit einem 7-Meter-Seil, so lang wie eine Longe und es kommt ein zweiter Bereich hinzu: das Reiten am langen Zügel, auch Freestyle-Reiten genannt. Hier geht es noch vorrangig um das Thema Sicherheit und bestimmte Notfallhilfen bzw. entsprechende Zügelarten. Bis hierhin habe ich beschrieben, was der Mensch in den ersten Monaten lernt, wenn er ins NHS einsteigt: Grundlagen, die noch für Reitanfänger gedacht sind und den fortgeschrittenen Reiter zu Höherem befähigen.

Kommunikation statt Kontrolle

Und das Höhere beginnt in den Levels 3 und 4: Hier beginnt auch erst die Freiheitsdressur, die im Parelli-Programm Liberty genannt wird. Ab Level 3 endlich bin ich auch bereit, dem Pferd etwas beizubringen und Verhaltensmuster der Pferde zu durchbrechen. Wenn ich als Mensch nach einigen Monaten den Level 3 erreicht habe, steige ich nämlich erst ein in die vielfältige Faszination des Natural Horsemanship: Ein System, wo die Beziehung zum Pferd an der allerersten Stelle steht, wo mein Pferd so fein reagiert, dass ich es ganz ohne Kopfstück reiten, lenken, ja sogar aus dem Galopp anhalten kann. Jetzt, wo ich das alles kann, bin ich erst fit genug mit Gebiss oder als Englisch-Reiter auch mit konstanten Zügelkontakt zu reiten, denn dann nutze ich die Zügel nicht mehr für die Kontrolle, sondern für die Kommunikation, z.B. wenn ich das Pferd gymnastiziere oder ihm Reining-Manöver oder die klassische Dressur beibringe.

So leicht wie das Einmaleins

Abacus.jpgParelli hat dieses Programm veröffentlicht und viele seiner Schüler zu so genannten Instruktoren ausgebildet. Viele bleiben jahrelang Instruktor, manche dieser ehemaligen Schüler sind dann irgendwann so gut, dass sie sich selbständig machen wie z.B. Steve Halfpenny in Australien, Honza Blaha in Tschechien oder Birger Gieseke in Deutschland. Andere kopieren dieses Programm, ohne jemals bei Parelli oder seinen Instruktoren gelernt zu haben. Es soll sogar hin und wieder Menschen geben, die das Programm kopiert haben, um es sodann als ihr eigenes zu erklären.

Alles in allem: Die Idee des Natural Horsemanship hat das Reiten in allen Sparten unterwandert, wenn nicht gar revolutioniert. Es gibt viele Klassisch-Reiter im System, die erfolgreich auf Turnieren reiten. Auch Pat Parellis Frau Linda ist Klassisch-Reiterin. Ich selbst bin Westernreiterin und habe schon bei vielen Westerntrainern Unterricht genommen und immer wieder stolpere ich über Inhalte, die ich aus Parellis Buch kenne: Dass man als Reiter auf seinen Weg sieht, dass man das Pferd mit Sitz und Beinen lenkt. Sogar die Parelli-Pattern finde ich im Westernreiten wieder wie z.B. die Acht oder das Kleeblatt wie auch das System der Hilfensteigerung in vier Phasen. Im Westernreiten wird dieses Vorgehen auch Anklingeln, Anklopfen und Tür-Eintreten genannt. Bis hierhin also ein System, was so leicht zu lernen ist wie das Einmaleins und das Alphabet.

Level 3: Das Pferdetraining beginnt

Wer am Anfang vielleicht noch damit gehadert hat, solch ein starres System zu erlernen, erlebt dann im Level 3 eine Überraschung. Wenn ich nämlich meine sieben Spiele, sozusagen mein Handwerkszeug gelernt habe, ist es vorbei mit dem immer gleichen Vorgehen. Immer öfter hört man von seinem Instruktor die Antwort: „Es kommt drauf an.“ Und jetzt sehnt man sich zuweilen zurück zu den Zeiten, wo man einfach sieben Spiele abspulen konnte. Aber das war eben nur die Menschenschule, mittlerweile sind wir mitten im Pferdetraining gelandet und es sind eben nicht alle Pferde gleich.

"Keep it natural"

IMG_0493.JPGUm auch dies für den Menschen erlernbar zu machen, hat Parelli den Begriff der Horsenalities geprägt und unterscheidet hier grob vier Pferdepersönlichkeitstypen, wobei es allerdings auch Mischformen geben kann oder Pferde, die je nach Situation von einem Persönlichkeitstyp zu einem anderen wechseln. Auch hier möchte ich nicht in die Tiefe gehen, aber ein wunderbares Zitat von Linda Parelli trifft den Nagel auf den Kopf: „Gib dem Pferd, was es braucht und es gibt Dir, was Du willst.“ So braucht ein ängstliches Pferd Führung vom Menschen, um sicher zu sein, dass dieser es vor dem etwaigen Angriff eines Tigers schützen kann. Ein selbstbewusstes Pferd sollte natürlich erst einmal einen gewissen Gehorsam lernen, aber wenn man sich dieses Gehorsams sicher ist, kann man einmal ganz außergewöhnliche, ja gar widersinnig erscheinende Strategien ausprobieren, z.B. jede einzelne Idee des Pferdes aufgreifen und umsetzen. Das Pferd geht z.B. bei der Bodenarbeit nach rechts, obwohl ich nach links wollte und statt mich auf den Streitversuch des Pferdes einzulassen, sage ich: „Ach, weißt Du was eigentlich möchte ich ja auch lieber nach rechts.“ Es ist nicht zu glauben, aber ich weiß es aus eigener Erfahrung. Bei Pferdetypen, denen das „Du-bist-nicht-mein-Chef“ quasi im Gesicht geschrieben steht, führt diese Strategie oft genug dazu, dass es sie langweilt, wenn sie mit ihren Streitversuchen ins Leere laufen. Und was passiert dann? Die Idee kommt vom Pferd und es teilt auf seine Art mit: „So wie Du spielst, ist doch doof – kannst Du nicht auch einmal etwas vorschlagen?“ Dies ist ein Beispiel für umgekehrte Psychologie.

Andere Pferdetypen erfordern ein anderes Vorgehen, z.B. das so genannte „Zero Brace“, wo ich als völlig entspannter Passagier mit dem Pferd in der Reitbahn bin und dem Pferd die Lenkung überlasse. Mit spielfreudigen Pferden kann ich am Boden Cutting spielen, denn es gibt für ein Pferd kein schöneres Spiel als das Fangen spielen. Pferde sind Bewegungsfanatiker und haben auch Spaß daran, am Boden fliegende Galoppwechsel oder Spins zu erlernen. Gleiches gilt für die Lektionen aus dem klassischen Reiten. Wer einmal eingetaucht ist in dieses System, hört mit dem Lernen nicht mehr auf. Getreu dem Motto „Keep it natural“ wird auch die Haltung der Pferde in Frage gestellt: Gruppenhaltung statt Boxenhaft, Winterfell statt Decken. Wer nun fürchtet, dass das System so starr ist, dass für Individualität kein Platz ist, der irrt. Dieser  Befürchtung möchte ich mit zwei Parelli-Zitaten begegnen, die besagen: „Sag niemals nie, sag nicht immer immer, normalerweise sag normalerweise“ oder auch „Wenn Du die Regeln kennst, dann kannst du die Regeln auch einmal brechen.“

Weg von den Extremen 

Das System will weg von den Extremen, was schon die verwendete Ausrüstung beweist. Am bekanntesten ist wahrscheinlich der Carrot Stick – auf Deutsch etwas holperig als Karottenstecken zu übersetzten. Der heißt so, weil es bei Pferdemenschen zwei Extreme gibt: Die Stockmenschen, die alles mit Prügel lösen und die Karottenmenschen, die alles mit Liebe und Futter regeln wollen – beides ist falsch. Parelli sagt von sich selbst, dass auch er extrem ist: nämlich ein extremer Verfechter des Mittelwegs. Wo wir gerade beim Thema Ausrüstung sind: Achten Sie auf Qualität, denn wer billig kauft, kauft meistens zwei Mal. Ihre Bodenarbeitsseile sollten aus Yachtleine gefertigt sein, so dass Sie sich keine Brandblasen holen, falls Ihr Pferd einmal versuchen sollte, sich loszureißen und runde Messingdrehkarabiner haben durch ihr Gewicht den Vorteil, dass Ihr Seil sofort bewegungslos ist, wenn sie aufhören zu schütteln. Wenn man bedenkt, dass nach Parelli Timing nicht etwas, sondern alles ist und Druck zwar motiviert, aber das Loslassen lehrt, können sogar Zehntelsekunden von entscheidender Bedeutung sein.

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Im Level 2 werden Sie als Anfänger vielleicht mit Knotenhalfter reiten, auch hier gilt, dass man nicht am falschen Ende spart, denn billige Halfter sind nicht weich genug für den empfindlichen Pferdekopf. Immer dann, wenn das Pferd seinen Job macht, soll es ja das Gefühl haben, dass es ganz und gar in Ruhe gelassen wird: Mit einem kratzigen, starren und unangenehmen Halfter wird sich dieses Gefühl schwerlich einstellen. Das Gebissreiten ist übrigens keineswegs verboten im Natural Horsemanship, genauso wenig wie Sporen oder die Teilnahme an Turnieren. Aber auf die verschiedenen Gebisse und Kopfstücke werde ich wohl besser in einem anderen Artikel eingehen, denn eigentlich sollte ich nur einen klitzekleinen Einblick in das System geben. Mein Artikel ist dann doch ziemlich lang geworden und immer noch habe ich das Gefühl nur einen Bruchteil dessen gesagt zu haben, was das Natural Horsemanship eigentlich ausmacht.

Aber wie dem auch sei, wichtig ist mir zu erwähnen: Ich bin stolz eine Parelli-Schülerin zu sein und froh darüber, dass ich auch in den nächsten Jahren immer wieder etwas Neues lernen kann. Denn bei Parelli bleibt man sein Leben lang ein Lernender, erreicht eigentlich immer nur die nächste Stufe der Inkompetenz … aber man hat Spaß dabei. Und das Pferd scheint auch Spaß daran zu haben. Meine Kinder und ich haben fünf Pferde und seitdem ich Natural Horsemanship betreibe, muss ich keines mehr einfangen: Die Pferde fangen mich ein oder kommen mir entgegen – meine eigene Paintstute kommt sogar im vollen Galopp, wenn sie mich sieht

Beitragsbild: Katharina Erfling

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