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Das (Nicht-) Offenstall-taugliche Pferd

Warum Pferde (nicht) offenstall-tauglich sind

Autorin: Karin Hufschmid

Der Offenstall, Bewegungsstall, Paddocktrail oder Aktivstall – Gruppenhaltung von Equiden oder "vom Matschloch bis zum Reha-Zentrum". Warum welche Pferde (nicht) für die Gruppenhaltung geeignet sind.

Er ist neu, modern und "en vogue": der Offenstall. Offen klingt hell, positiv, frisch. Es klingt nach weniger Gefangenschaft, mehr Natur und verhilft uns zu einem guten Gewissen. Doch was steckt dahinter? Wie sieht der Offenstall aus Sicht der Pferde aus? Eine Untersuchung ohne wissenschaftlichen Hintergrund.

Die Weite geniessen

 

Terminologie-Studie: Die Definition von "Offenstall"

Situation: Drei Pferdenärrinnen (Hanni, Nanni und Fanni) beim Eskadron-Shopping, man prahlt mit der gewählten Art der Pferdehaltung.

Hanni sagt: "Mein Appi-Quarti-Shire-Mix lebt im Offenstall, is' ja logisch." 

  • Bedeutung: "Weidehaltung" von zwei Pferden hinterm Haus. Quasi im Garten. Fürs kleine Geld. Infrastruktur brauchts nicht, da Klo im Wohnhaus und das Pferd "fertig ausgebildet". Hanni ist Selbstversorgerin. Im Winter stehen sie zwar im knietiefen Schlamm, aber hey, das ist gesund, solange man die (noch sichtbaren) Pferdeäpfel täglich abäppelt.

Nanni erwidert: "Ach, mein Donnerknall-Weltenbummler-Landaffen-Ururururenkel auch!" 

  • Bedeutung: Vollpension für Pferd und Mensch, eigentlich muss man gar nicht mehr hin zum Pferd. Computer regeln Heu, Kraftfutter, Zugang zur Weide, Wasserqualität und Geschwindigkeit und Dauer in der Führanlage. Er wertet die Kamerabilder aus und berechnet die tägliche Laufstrecke, Tiefschlafdauer und Urinmenge pro Pferd. Für jedes der 70. Nur der Mist rennt noch nicht von selbst auf den Haufen.

Fanni meint: "Mein Distanz-Arabär schon seit Jaaaahren."

  • Bedeutung: Zurück zur Natur, ohne Rücksicht auf Verluste (des Stallbesitzers). Die Hufe sollen sich (gefälligst!) auf dem mit 5 unterschiedlichen Oberflächen befestigten Paddock Trail zurechtfeilen. Der ist 2.7km lang, hügelig, aber nur leicht. Grasbewachsen, aber nur mager. Mit Kurven, aber nur sachten. Er führt über Baumstämme, Steinwüsten, durch kleine Gräben, über Hügel, durch eine Wasserfurt und über eine Brücke, vorbei an Totholzhecke, Mineralbar, Kräutergarten, Bachlauf mit Wasserfall, Strohraufe, Kratzstamm, Heunetzen und riesigem Stall mit Grünkompost-Einstreu. Ist doch logisch, gehört alles dazu, nur der doofe Stallbesitzer meckert immer, das mache alles so viel Arbeit.

Auch im Winter draussen

 

Fazit: "DEN Offenstall" gibt es nicht 

So vielfältig wie Kolik-Ursachen sind die Umsetzungen von Offenstall-Ideen. Von Einraum-Laufställen aus riesigen Hallen und kaum Freifläche über Carport-ähnliche Unterstände auf einer Wiese, von Ställen mit Bewegungsanreizen durch manuelle oder elektronische Schleusen-Systeme bis hin zu einem dem All-Inclusive-Resort ähnlichen Wegenetz kann ein "Offenstall" so ziemlich alles bedeuten. Doch eines haben sie alle gemeinsam: Den Wunsch, Pferde [beinhaltet Maulesel, Maultier, Pony und Esel] in der Gruppe zu halten, ihnen mehr Platz, Bewegung und Eigenständigkeit zu ermöglichen.

Aus Sicht der Pferde sieht das dann so aus:

Der 450-kg-Schetty-Mix "Lillyfee" steht mit 2 Norweger-Kumpels auf einer matschigen Wiese mit Weidezelt und Opas Garage hinterm Haus. Sie hat EMS, Cushing und chronische Hufrehe, dazu noch ein paar kleine Dinge wie Kotwasser, Mauke, Strahlfäule und ein tränendes Auge. Hin und wieder ein paar Würmer. Und ja, vielleicht stirbt sie irgendwann an etwas davon. Aber ist ja natürlich.

Der 28jährige 350kg-Vollblüter "Golden Oldie" steht im Offenstall von Bauer Paul, welcher der Tochter zuliebe seine Milchkühe gegen Einstellerpferde getauscht hat. Warum sich 38 Pferde nicht eine Heuraufe teilen können, sieht er bis heute nicht ein – die können sich abwechseln, hat ja genug. Und die gleiche Anzahl Kühe kam mit der angebotenen Stallfläche mit den vielen Engpässen und Sackgassen auch zurecht, genauso wie mit dem Silage-Futter und den e-Zäunen mit einer einzigen Litze auf 60cm Höhe. Golden Oldie kommt leider weder zum Fressen noch zum Liegen und springt wöchentlich vor Verzweiflung ob dem aggressiven Herdenchef aus der Weide. Dafür ist er mit 100kg Untergewicht ein recht günstiges Pferd – für Bauer Paul.

Der lackschwarze M-fertige Dressurcrack "Sagtmirnix" ist 21, ruhig und erfahren, ein toller Professor für die 14jährige Lena, die ihn auf den Geburtstag geschenkt bekam. Sie will ihm was Gutes tun und gönnt ihm (mit Papas Hilfe) den Top-Aktivstall mit Rundumbetreuung, ausgependeltem Premium-Futter und einer Offenstall-Anlage, die mehr einem Entertainment-Zenter auf 12 Hektar entspricht. Nur schade, dass besagter Wallach mit grad mal 3 anderen Fohlen und einer Tante aufwuchs und danach 18 Jahre in einer Einzelbox stand. Ob den neuen Herausforderungen wie Futter teilen, untemperiertes Wasser trinken, nasse Hufe bekommen, an anderen Pferden vorbei gehen müssen, sich einen Schlafplatz suchen, mit anderen Pferden kommunizieren und sich abgeben müssen etc. wird er jedoch leider ganz konfus, ist völlig überfordert und will im Viereck nur noch schlafen. Ausserdem kommt dauernd ein neuer zur Gruppe und ein anderer (immer der nette!) geht wieder. Das macht ihn ganz wahnsinnig, so dass er bald gar nicht mehr von seiner Gruppe weg will – man weiss ja nie!

Matschige Zeiten

 

Die Interpretationen

Und was interpretieren die Menschen da rein, die diese Offenställe sehen? Sie sehen, dass Lillyfee kein Offenstallpferd ist. Weil sie zu viel frisst und deshalb krank ist. Kranke Pferde gehen nicht im Offenstall. Sie sehen, dass Golden Oldie abbaut, oft friert, apathisch wird, gebrechlich und sich nicht durchsetzen kann. Alte Pferde gehen nicht im Offenstall. Sie sehen, dass Sagtmirnix unberechenbar wird, sich nicht mehr vom Stall wegführen lässt, dauernd Verletzungen wegen Auseinandersetzungen hat und keine Leistung mehr bringt. Sportpferde gehen nicht im Offenstall.

Offenstall

Was sie nicht sehen, sind die menschgemachten Ursachen hinter all diesen Problemen.

Wäre Lillyfee in einem Stall mit einer harmonischen Gruppe von Ponys, die viel spielen, nur sehr kontrolliert auf die Weide kommen, trocken auf befestigten Böden stehen und mit magerem Pferdeheu gefüttert würden, dazu täglich bewegt durch viele Bewegungsanreize im Stall und Bewegung mit dem Menschen, dann wäre Lillyfee nicht so rund, so faul und so krank. Dann würde sie aufblühen und wirklich pferdegerecht leben. Dann geht auch ein (noch) krankes Pferd im Offenstall.

Wäre Golden Oldie in einem Stall mit einer Handvoll Pferden mit gemässigtem Temperament, wo er viel Platz hat und immer einen trockenen Schlafplatz findet, jederzeit gutes Heu fressen kann und sich immer bewegen kann, wenn die Gelenke einzurosten drohen oder der Wind etwas kühler ist, dann würde er noch lange munter bleiben und bis auf ein paar Alters-Wehwehchen auch beschwerdefrei. Dann geht auch ein altes Pferd im Offenstall.

Wäre Sagtmirnix als Fohlen in einer gemischten Herde mit Spielkameraden, Tanten und älteren Onkeln aufgewachsen und auch danach als Reitpferd in der Gruppe gehalten worden, dann hätte er die sozialen Fähigkeiten, um seinen Platz im Herdengefüge zu finden. Dann wäre es ganz natürlich, vom selben Heu zu fressen und dem anderen zu erkennen zu geben, wann ihm das Spiel zu grob wird. Dann wäre er nicht dauernd verletzt, wäre ausgeglichener und würde nicht krampfhaft an seiner Herde kleben. Dann geht auch ein Sportpferd im Offenstall.

Es geht EIGENTLICH jedes Pferd im Offenstall

Jedenfalls eher, als in einer Einzelbox mit Sicht auf den Stallgang. Weil es den Bedürfnissen der Pferde näher kommt. Weil sie mehr geistige Anreize erhalten, sich mehr bewegen und mit anderen Pferden in einem sozialen Gefüge leben können, mit allem was dazu gehört. Aber die Haltung in der Gruppe und mit permanentem Auslauf erfordert auch einige Überlegungen. Der Stall muss zum Pferd passen. Die Gruppe, die Art und Strukturierung des Stalls, die Fütterung, das alles muss zum Pferd und zum Besitzer passen, damit es funktioniert.

Auch muss der Besitzer seine Ansprüche eventuell etwas zurückschrauben. Vielleicht sind keine Eisenbeschläge erlaubt, und er muss sich an Hufschuhe gewöhnen. Oder er muss das Kraftfutter täglich selber füttern, wenn sein Pferd welches braucht. Oder er muss das Training im Winter etwas reduzieren, weil Eindecken nicht möglich ist. Oder er muss akzeptieren, dass sein Pferd sich nur in einer kleineren Gruppe wohl fühlt und man sich vor dem Ausreiten absprechen muss, damit nie eines allein im Stall bleibt. Oder er muss mit einem kleineren Reitplatz auskommen und ohne Laufband, Halle und Solarium. Oder mit einem längeren Anfahrtsweg zum Pferd, weil der passende Stall nicht gleich um die Ecke zu haben ist. Oder eben nicht für kleines Geld.

Pferdestall

 

Es liegt nicht am Pferd

Wann immer ich die Aussage höre, dass ein Pferd einfach kein Offenstallpferd ist, oder dass diese und jene Pferde halt nicht so gehalten werden können, oder dass eine saubere Box mit Auslauf noch immer sehr viel besser sei als das übliche Matschloch, dann schau ich mir den Fall an und denke mir fast immer: Es liegt nicht am Pferd. Das Pferd könnte sehr wohl im Offenstall leben. Nur der Mensch verunmöglicht es. Entweder, weil in der aktuellen Situation was schiefläuft und der Mensch keine Kompromisse eingehen will, oder aber weil in der Vergangenheit des Pferdes schon so viel schieflief, dass es nicht mehr so leben kann, wie es seiner Natur am ehesten entspräche.

Und was können wir jetzt tun?

Entweder weiter Ausreden erfinden, warum das Pferd nicht in den Offenstall gehört und jammern, dass es nichts Passendes in der Umgebung hat oder dass die Haltung für "richtige Ställe" nicht rentiert. Unsere Kinder weiterhin in Reitställe schicken, wo Pferde auf 3.5x3.5 Metern mit kaum grösserem Auslauf leben (zum Vergleich: Da hätte es der Schäferhund in der Abstellkammer noch verdammt komfortabel!) und Pferde aus Ställen kaufen, wo sie als Fohlen schon auf alles vorbereitet werden, ausser auf das Leben als Pferd.

Oder wir können versuchen, unsere Pferde wieder etwas mehr Pferd sein zu lassen. In Ställen, die sie nicht krank machen, sondern Körper und Geist beschäftigen und stärken. Und jenen, die das nicht mehr können, möglichst guten Ersatz bieten. Beim Pferdekauf und deren Ausbildung gezielt jene Pferdemenschen berücksichtigen, welche den Pferden ein möglichst zufriedenes Leben bieten wollen.

Und uns selber bei Entscheidungen immer kritisch selber zu hinterfragen:

Ist es für das Pferd das Beste, oder einfach nur für uns komfortabler?

Bilder: Karin Hufschmid / Mary-Theres Haller

 
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